Enteignung : Roman

Kaiser-Mühlecker, Reinhard, 2019
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Medienart Buch
ISBN 978-3-10-397408-9
Verfasser Kaiser-Mühlecker, Reinhard Wikipedia
Systematik 830 - Deutschsprachige Literatur
Schlagworte Existentialismus
Verlag S. Fischer
Ort Frankfurt am Main
Jahr 2019
Umfang 221 Seiten
Altersbeschränkung keine
Auflage 2. Auflage
Sprache deutsch
Verfasserangabe Reinhard Kaiser-Mühlecker
Annotation Quelle: Literatur und Kritik;
Autor: Franz Schörkhuber;
Ein eigensinniger Erzähler geht seinen Weg
Reinhard Kaiser-Mühleckers »Enteignung«
Wie bereits auf seine vorangegangenen Bücher passt auch auf Kaiser-Mühleckers neues Buch wieder jene Tagebuchnotiz Ludwig Wittgensteins aus dem Jahr 1929, in der es heißt: »Ich glaube, das gute Österreichische (Grillparzer, Lenau, Bruckner, Labor) ist besonders schwer zu verstehen. Es ist in gewissem Sinne subtiler als alles andere, und seine Wahrheit ist nie auf Seiten der Wahrscheinlichkeit.«
Die Figuren, Handlungen, Szenarien und Gedankenbewegungen folgen, trotz seines archaischen Schreibtons, bei Kaiser-Mühlecker nie den naheliegenden, zuerst erwarteten Mustern, sondern bezeugen eine eigentümliche Widerspenstigkeit gegenüber den sie bedrückenden ökonomischen, familiären und gesellschaftlichen Zwängen. Leider hilft den Figuren ihr Rudern, Taumeln, Aufbegehren oft nur sehr wenig. Das Wort »Enteignung« steht in diesem Buch nämlich nicht nur für den Entzug landwirtschaftlicher Flächen, um darauf Autobahnen oder Windparks zu errichten; im Lauf des Erzählens wird vielmehr deutlich, wie die Menschen im Rahmen der geschilderten Arbeits-, Familien- und Sozialwelten zusehends ihrer selbst beraubt werden, indem ihnen die Fähigkeit abhandenkommt, sich als souveräne Akteure oder auch bloß aktiv Beteiligte zu begreifen. Ent-Eignung als ein Prozess im Innern, hervorgerufen durch das, was außen liegt.
Da ist zunächst Jan, die Erzählstimme, ein einstmals erfolgreicher Journalist, der das Haus der Tante in seinem Heimatort geerbt hat und dort seiner Katze jene Liebe entgegenbringt, die er für andere Menschen nicht empfindet. Auf sonderbare Weise angezogen von ihrer Gleichgültigkeit und obwohl sie eigentlich nicht sein »Typ« ist, beginnt er eine Affäre mit der zweifachen Mutter Ines, von der er bald feststellen muss, dass sie noch weitere Liebhaber hat. Deren Spuren in einem Anflug von Eifersucht nachgehend, heuert er (da es mit dem Lokalblatt, für das er schreibt, ohnedies bergab geht) kurzerhand bei dem Schweinebauern Flor an, der um nur irgend wirtschaften zu können seinen Hof ständig erwei­tern muss, genau daran aber von dem Gemeindebeamten (und ebenfalls einen Schweinemast­betrieb führenden) Beham behindert wird. Und dann ist da noch Hemma, Flors Ehefrau, die in ihrer ernsten und alles und jeden auf praktische Nutzbarkeit befragenden Art auf Jan ebenso befremdlich wie erotisierend wirkt. Weiß sie etwas von der Affäre ihres Mannes? Und ist etwa auch der Beham hinter Ines her?
Sich selbst fast bis zum Schluss für unbeteiligt haltend, versucht Jan in dem sich vage andeutenden Gefüge von Betrug, Liebe, Sehnsucht und Wahnwitz eine Ordnung auszumachen. Der Leser bleibt zumeist im Bewusstsein dieses scharf und umsichtig beobachtenden, dabei aber sich selbst als völlig unbeteiligt missverstehenden Menschen befangen. Zuweilen jedoch werden die Widersprüche zwischen der vorgegebenen Distanziertheit und dem tatsächlichen Mitgerissensein derart eklatant, dass sie über die Person Jans hinaustragen und ihn selbst als Teil jenes Gefüges erkennen lassen, von dem er meint, ihm entrückt zu sein: »Mir war, als sei ich zusehends nur noch von Wesen umgeben, aus denen, ohne dass sie es bemerken, auf die eine oder andere Art und Weise das Leben wich.«
Diese ironische Doppelung bleibt bei Kaiser-Mühlecker aber keine bloße Technik, um an der Hauptperson zu zeigen, was sie selbst als Entfremdung bei anderen beobachtet, sondern erwächst aus seiner schriftstellerischen Meisterschaft (und Redlichkeit), die Poesie unserer Tage gerade an dem zu gewahren, was sie bedroht. Seine schon bewährten Landschafts- und Vegetationsbeschreibungen sind in diesem Roman (der anders als einige der Vorgänger in der Jetztzeit spielt) kein poetischer Selbstzweck, sondern erhalten ihre Strahlkraft gerade dadurch, dass jemand sie äußert, der den Zugriff auf seine Umwelt und seine Mitmenschen offenbar immer mehr verliert. Mit etwas Gut- oder Mutwillen könnte man darin auch eine Allegorie für das Problem des Schriftstellers erkennen, dessen poetische Ansprüche angesichts der täglich kleiner werdenden Räume lebendiger Natur wie eine erträumte Ausflucht wirken (und gerade das aber nicht sein sollen).
Das Buch bezieht seine Spannung nur zum Teil aus dem zuerst sehr undurchsichtigen, sich zum Ende hin aber mehr und mehr zuspitzenden Handlungsverlauf. Die weitaus größere Spannung geht von seinen Figuren und dabei insbesondere von der nach Ganzheit sich sehnenden und doch so ungemein zersplitterten Natur Jans aus. Wenn er sonntags, in einer Maschine sitzend, von oben die zersiedelte Landschaft beschreibt oder abends, seinen Kater kraulend, den geschichteten Himmel betrachtet, spricht eine Einfühlsamkeit und Liebesfähigkeit aus ihm, von der kaum mehr etwas übrig ist, sobald er es mit Menschen zu tun bekommt. Es scheint, als kann er den Dingen nur aus der Distanz Empathie entgegenbringen; wogegen diese verkümmert, sobald ihm ­jemand, der seiner bedürfte, leibhaftig gegenüber steht. Das Künstlerproblem scheint auf Jan der auf schwere Autos steht, Sportflugzeuge fliegt und auf der ganzen Welt seine Facebookfreunde hat nicht gleich zu passen; und doch wird zum Ende hin glaubhaft, dass er auch Gedichte liest.
Kaiser-Mühlecker deutet sie an, die Krisen unserer Tage: Klimawandel, prekäre Arbeitsverhältnisse (samt Burnouts), Untergang des Journalismus und der Bauernschaft, maschinelle Verdinglichung von Land und Tier, Bedeutungsloswerden des Eheversprechens, Vereinzelung der Konsumenten, mediale Netzwerke, Rechtsruck (etc.). Er doziert nicht, sondern macht in oft melancholisch getünchter Präzision einzelne Dinge kenntlich, die dann eine Schönheit preisgeben, wie man sie hinter ihnen nicht gleich erwartet hätte: »Es war Erntezeit, und über dem Landstrich hing von morgens bis abends gelber Staub. Früher hatte man in diesen Wochen überall Menschen gesehen, jetzt sah man nur noch Schemen hinter riesigen getönten Windschutz- und Seitenscheiben, die einem, kamen sie einem auf der Straße entgegen, erscheinen konnten als übergroße Vögel in der Dämmerung.« Das und sei es auch bloß vorübergehend Abhilfe schaffende Heilmittel gegen den vorherrschenden Entfremdungssog sucht und findet der Autor nicht in der vernünftelnden Kritik, sondern in einem geänderten Tempo der Wahrnehmungs- und Handlungsfolgen. Und dieses Tempo Kaiser-Mühleckers vermag so mitreißend (oder besser: dermaßen entschleunigend) zu wirken, dass man nach der Lektüre eine andere Daseinsweise tatsächlich einmal wieder für möglich hält.
Frei von Mängeln ist das Buch nicht. Wenn der Erzähler am Ende des ersten Kapitels sagt, dass »das Ende meines so ruhig und ereignisarm gewordenen Lebens eingeleitet« worden sei, klingt diese Zurücknahme der Zurücknahme nicht nur unbeholfen und phrasenhaft, sondern wirkt (gleich anderen Übergangspassagen) zu sehr wie ein bloß nachträglich angebrachtes Scharnier, das mit dem Korpus nur in einem äußerlichen Zusammenhang steht.
Ab Ende des vierten Kapitels geht es außerdem zu schnell. Hier, wo sich die vielen vagen Einzelmomente der ersten Teile zum zwar nach wie vor unfertigen, aber doch konturierten Bild verdichten sollen, hätte ein etwas längerer Atem gut getan. Die Dialoge haben plötzlich zu tragen, was ihnen zuvor nicht zugemaßt wurde: die Zerrüttung der Charaktere zu zeigen (auszusprechen), ohne die Mühen des genauen Hinsehens auf sich zu nehmen. Das Bild, wie es am Ende des 5. Kapitels vor einem steht, ist zwar dem Gedanken nach ergreifend und gew 893 altig, ja von fast sophokleischer Wucht; einzelne Charakterwendungen (v.?a. Flors und Hemmas) bleiben jedoch zu ungreifbar, als dass es seine volle Wirkung entfalten könnte. Freilich, die Kunst Kaiser-Mühleckers liegt zu einem guten Teil darin, dass er Unwahrscheinliches driftig machen und gelten lassen kann. Aber auch dies Unwahrscheinliche muss, wenn es wahr sein soll, erfahren oder gefühlt sein; es dürfte nicht konstruiert, gebaut werden. Ich würde glauben, jenem Ende des vierten Teils mangelt es an Subtilität.
Trotzdem eine unbedingte Leseempfehlung für alle, die Heimat anders denken wollen als rechte Politik es propagiert.

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